Der Gelbersdorfer Wandelaltar
Er kann durch seinen Schrein mit den doppelten Flügeltüren entsprechend dem Rhythmus des Kalender- und liturgischen Jahres drei Schauseiten anbieten:
1.1. die Fest- und Feiertagsseite, Schrein
Zentralfigur bildet Maria mit dem Kind, als Himmelskönigin gedacht, denn über ihr halten zwei Engel die Krone. In den Seitennischen links und rechts knien Spruchbänder tragende, jubilierende Engel, darüber schwebend je zwei anbetende Engel. Auf den zierlich gedrehten Säulen außen an der Mittelnische sind die Propheten Jesaia und Jeremia postiert, alles vornehmlich in Gold gefasst.
Ikonographisch drücken die Engel den Stil der späten Gotik am besten aus. Die steil gestellen Flügel, der gezielt auf Mutter und Kind gerichtete Blick, die reichen, faltengestauten Mantelschöße der Anbetenden, die himmlischen Gnaden symbolisierend, die die Krone reichenden in ihrer Anmut und eifrigen Hingabe zum göttlichen Auftrag, alles Gottesboten ins Gold des Himmels gehüllt; mehr entkörpert und betont in ausdrucksvoller Gewandsprache.
Diese Festtagsseite wurde gleichsam einer Epiphanie (Erscheinung) nur zu den liturgischen Hochfesten und Marienfesten gezeigt, so dass bei den Kirchenbesuchern sich damit ein gewisser, sich steigernder Spannungseffekt einstellte, nämlich nur an wenigen Tagen des Jahres einen Blick in den Himmel werfen zu dürfen, verbunden mit der Hoffnung wie die Zentralfigur als „Frau aus dem Volke“ auch selbst einmal einst in das himmlische Reich aufgenommen werden zu können.
1.2. die Fest- und Feiertagsseite, Flügeltüren
Sie stellen das zu dieser Zeit sehr häufig gewählte Thema des mariologisch-christologischen Heilsplanes, eingeleitet durch die Menschwerdung Christi, dar.
1.2.1. Mariä Verkündigung (nach Luk 1,26)
Der Engel des Herrn (Gabriel) mit Lilienszepter tritt in das Gemach Mariens und überbringt ihr die himmlische Botschaft. Maria vor einem Betpult kniend, den Kopf geneigt, gemäß dem Psalm 45,11 „Höre Tochter, sieh, und neige dein Ohr …“ Das aufgeschlagene Buch weist auf die Stelle bei Jesaia 7,14 hin. „Seht die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären …“ Aus dem Goldhintergrund hebt sich ein purpurner Brokatvorhang ab; der Boden leuchtet in verschieden farbigen Marmorimitationen. Das Strahlenbündel mit der Heiligengeisttaube fehlt.
1.2.2. Mariä Heimsuchung (Luk 1,39)
Die beiden hoffenden Frauen vor einem burgtorartigen Übergang, reichen sich die Hände, Maria mit der jungfräulichen Kopfbedeckung, Elisabeth mit der Frauenhaube. Im Hintergrund eine stark überhöhte Landschaft, die oben einen Hirten mit einer Schafherde, eine befestigte Burganlage und einen Garten mit Ölbäumen aufweist (Elisabeth mit Zacharias verheiratet, ist die Tochter der Hismeria und diese die Schwester der Mutter Anna).
1.2.3. Christi Geburt (Luk, 2,1)
Diese allseits bekannte Weihnachtsdarstellung mit der Geburt Christi im Stall zu Bethlehem weicht nach genauem Betrachten von der üblichen ab, und zwar dadruch, dass die kompositorische Ausgestaltung in Teilen nach den apokryphen Schriften (Historia Scholastica) ausgerichtet ist.
a) Wir haben keinen Stall, sondern rechts eine schräg gesetzte ruinöse Mauer, links die Vorderansicht einer Blockhauswand und oben eine dürftige Überdachung (Obdach). Es ist ein zugiger Durchlaß, unter dem sich die Leute bei Schlechtwetter zu einem Unterschlupf oder Gespräch einfanden.
b) Wir haben keine Krippe. Die Muttergottes legt das Kind auf die umgeschlagene Innenseite ihres Mantels, der in einem Körbchen ausgebreitet ist.
c) wir haben keine Windeln; die Scham ist nur mit einem kleinen Tüchlein bedeckt, das Kind liegt nackt da. Aus der Physiognomie und Gestik der Gestalten teilt sich uns die Innigkeit und Ergebenheit Mariens, eine fast himmlische Verzückung Josephs (Kerze fehlt) und auch die Teilnahme von Ochs und Esel an der Herabkunft des Heilandes mit. Die Armut ist, nachdem das heilige Paar keine Herberge gefunden hatte, noch erheblich gesteigert und fand beim Volk, das selbst in der damaligen Dörflichkeit arm war, eine noch bessere Annahme.
1.2.4. Die Anbetung der Weisen (Matt 2,11)
Die Szene spielt sich unter einem ähnlichen Obdach ab wie bei der Geburt. Kaspar kniend mit entblößtem Haupt, die Krone niedergelegt, reicht dem göttlichen Kind eine vergoldete Schatulle dar. Es spielt wie jedes andere Menschenkind damit, Symbol der Menschwerdung. Der König jedoch symbolisiert die Unterwerfung der irdischen Macht vor der göttlichen Macht, ausgedrückt beim Kind durch die überkreuzten Beine (Richtergestus). Die drei Gestalten vertreten nach ihren Gesichtern die drei Lebensalter (Greis, Mann, Jüngling) und nach ihrer Tracht die drei damals bekannten Erdteile, nämlich Europa, Asien und Afrika.
Alle vier Tafeln schließen oben mit einem filigranartigen Rankenwerk, Schleierband genannt, ab, bestehend aus dunklem Geäst und vergoldetem stilisierten Blattwerk.
Diese vier Flügelbilder stammen nach Komposition und figurativer Gestaltung mit denen des Altars von Heiligenstadt (bei Gangkofen) nahezu völlig überein. Sie lassen überzeugend den Schluß zu, dass es sich dort um den gleichen Meister (Heinrich Helmschrot) handelt.
1.3 Fest- und Feiertagsseite, Predella (Sarg) ist Sockel für den Schrein auf dem Altartisch.
Sie bringt meist Darstellungen im Zusammenhang mit Tod, Leiden, Reliquien u. dgl.
1.3.1. Predellanische
In Gelbersdorf stellt sich der Tod Mariens gleichsam wie in einem Sterbezimmer mit Kleinskulpturen bzw. Reliefformen zur Betrachtung vor. Die Muttergottes liegt auf dem Sterbebett. Die Apostel umstehen sie, ähnlich wie in einer mitleidenden Familie. In der Mitte, wohl Johannes mit der Kerze; er reicht der Sterbenden die Rechte zum Abschied. Zwei der Apostel, am oberen Ende Petrus, am unteren ein anderer, beten die Totenoffizien. Links im Hintergrund schwingt einer der zwölf Boten das Rauchfaß, rechts gegenüber kann man Jakobus d. Ä. mit der Muschel erkennen. Im Vordergrund ein langer Bettkasten.
1.3.2. Predellatür links Innenseite geöffnet
Die mariologische Legende setzt sich im himmlischen Bereich fort. Gottvater und Gottsohn, jeweils mit der Weltkugel als Attribut, heben die Krone mit den Lilienzacken über das Haupt der Himmelskönigin. Sie empfängt die Auszeichnung und höchste Würdigung nach dem Motto: Mir geschehe nach Eurem Willen. Alles, außer den kubischen Postamenten, ist in Gold gefaßt. Die vielen fein komponierten Zackenfalten versinnbildlichen die überreichen Gnaden.
1.3.3. Predellatür rechts Innenseite geöffnet
Fortfahrend in der Mariologie erleben wir rechts diese Himmelskönigin einer Vision gleich für die irdische Welt als Schutzmantelmadonna, überlängt in der Gestalt (Bedeutungsmaßstab), die Arme waagrecht ausgebreitet, den vergoldeten Mantel bis zur Gänze ausgespannt, mit einem weißen Schultertuch drapiert und auf dem Haupt die Krone. Darunter eine Fülle von nackten Menschen, die nur mit einem Tuch in der Scham bedeckt sind, erfüllen das Bild der Hilfsbedürftigkeit und Zuflucht, versinnbildlicht in der Blöße und in den bittenden Händen – ein Papst ist dabei zuvorderst eingeschlossen – gegenübr der Mediatrix, der Mittlerin zwischen der Menschheit auf Erden und Gott im Himmel. Eine Korrespondenz zum nackten Neugeborenen in der Geburtszenerie läßt sich anführen.
2.1. Die Sonntagsseite
Schließt man das erste Flügeltürenpaar mit seinen Innenseiten, so wird der Schrein verdeckt. Die Außenseiten vereinigen sich nun mit den Innenseiten des zweiten Flügelpaares zu einer achtseitigen Schautafel, je vier Bilder oben und unten in zwei Zeilen angeordnet. Das Kernmotiv umfaßt die Annenlegende von der 2. bis zur 7. Tafel, vorausgehend im 1. Bild die Einsetzung des ersten Hohenpriesters Aaron durch Mose und abschließend das Gemälde der Heiligen Sippe. Dem Hauptthema entsprechend wird also mit dem 2. Bild in der Erklärung und Deutung begonnen.
2.1.2. Das Opfer von Joachim und Anna
Joachim und Anna sind seit 20 Jahren kinderlos verheiratet und dürfen auch kein Kind erwarten, da beide als unfruchtbar gelten. Sie sind darüber unglücklich und geloben Jahwe, daß sie ein gewünschtes Kind dem Herrn weihen wollen.
Zum Fest der Tempelweihe begeben sich beide in das Haus des Herrn und wollen ihr standesgemäßes Opfer, ein Lamm (Joachim besitzt mehrere Herden und zählt zu den Wohlhabenden), darbringen. Der Hoheprister, der von dem Gelübde nichts weiß, gerät in Zorn und wirft das dargebrachte Opfertier vom Altartisch. Unfruchtbare, die das Volk Gottes nicht mehren, dürfen nicht unter Fruchtbaren stehen. Beide werden aus dem Tempel gewiesen. Joachim mit dem Gesicht noch zum Hoheprister gewandt und die harten Worte empfangend, wenden sich mit dem Körper zum Verlassen ab. Anna trägt die bitter strafenden Worte schweigend mit innerem Schmerz.
Im Ausgang und Durchblick das Gold des Tempels, im Hintergrund zwei Rundbogentafeln mit je 5 Zeilen und hebräischer Buchstabenfolge (breite Querbalken, dünne Längsstriche). Sie ergeben aber keinen Wortsinn und sind wohl nur als alttestamentarisches Ambiente wie auch in anderen Tafeln eingefügt.
2.1.3. Die Verkündigung an Joachim
Um der Schande und Verachtung zu entgehen, flieht Joachim in die Berge zu seinen Hirten und verbringt dort 40 Tage. Da erscheint ihm ein Engel des Herrn und verkündet ihm die Frohbotschaft: „Ich bin zu dir gesandt und um dir zu verkünden … deine Gebete und Almosen sind aufgestiegen vor Gottes Angesicht … die Unfruchtbarkeit hast du unschuldig erlitten … dein Weib Anna wird dir eine Tochter gebären, die sollst du Maria heißen … und soll dem Herrn geweiht sein als ihr gelobt habt … und das nimm zum Zeichen: so du nach Jerusalem kommst zu der goldenen Pforte, wird dein Weib Anna dir begegnen …“
In besonders überzeugender Ausdruckskraft ist der Engel (Gabriel) gezeichnet: die Flügel noch ausgebreitet, die Füße gerade aufsetzend; der prachtvolle Mantel flattert noch im Flugwind, ebenso die zackengefaltete weiße Albe. Joachim geht in die Knie und empfängt die ersehnten Worte in ergebener Demut. An diesem himmlischen Geschehen nimmt auch die Natur teil; zwei Schafte wenden ihre Köpfe zu den korrespondierenden Gestalten, ein Rotkehlchen wird aufmerksam, verschiedene Blumen blühen im Vordergrund. Im Hintergrund stellt sich ein gotisches Stadtbild vor, dem ein reisendes Paar zuwandert. Der goldene Himmel unterstreicht noch einmal die himmlische Sphäre.